Gerade habe ich zum wiederholten Mal „Der Herr der Ringe“ gelesen. Fasziniert lässt mich Tolkien nach dem Lesen mit einem Gefühl wohliger Wärme zurück. Liebevoll hat er vor meinen Augen diesen Epos gesponnen, ohne zu martialisch und brachial zu werden. Ganz im Gegenteil zu Peter Jacksons Verfilmung des Buchs. Es scheint Tolkien möglich zu sein, fast kindgerecht über das Dunkel in Mittelerde zu schreiben, das mehr und mehr an Kraft gewinnt und alles zu überrollen scheint. Nie wird es zu schwer oder untragbar. Die Resilienz, die innere Kraft des Durchhaltens, von Frodo, den Hobbits und den anderen Gefährten, macht Mut für unser eigenes Leben. Tolkien scheint uns bis in unser eigenes Erleben hineinrufen zu wollen, dass wir doch Durchhalten sollen. Dass sich trotz aller Widerstände das Durchhalten lohnt. Am Ende des dunklen Weges könnte ein Licht strahlen, dass nie erlöscht. Und unsere kleine Person, unbedeutend und machtlos im Angesicht von Gewalt und Tücke, ist Teil eines großen Ganzen. Wir sind Teil einer Geschichte, die über uns hinaus geht. Und vielleicht, hoffentlich, wird erst viel später klar, dass alles gut geworden ist.

„Langsam griff er in die Brusttasche, und langsam streckte er Galadriels Phiole vor sich in die Höhe. Zuerst flimmerte sie nur schwach wie ein aufgehender Stern, der dichte Erdennebel durchdringt; dann, als sie an Kraft gewann und in Frodo die Hoffnung stärkte, begann sie zu glühen und loderte silbern auf, ein kleiner Herd blendenden Lichts, als wäre Earendil selbst mit dem letzten Silmaril an der Stirn von den hohen westlichen Bahnen herabgestiegen. Die Dunkelheit wich zurück, bis die Phiole in der Mitte einer luftigen Kristallkugel zu leuchten und die Hand, die sie hielt, weiße Funken zu sprühen schien.“

J.R.R. Tolkien

Beim Lesen vom Herrn der Ringe und dem Erzählen unserer eigenen Lebensgeschichten können wir von Tolkien lernen. Zuerst Lesen wir die Geschichte von Frodo und hören was sie uns ganz persönlich zu sagen hat. Jeder hört Geschichten mit seinen eigenen Ohren und hat eine ganz eigene Perspektive auf die Geschichte. Jedem wird etwas anders wichtig, jeder wird von anderen Charakteren angesprochen und manchmal tief berührt. Mal bewegt uns die Kraft und Schönheit der mächtigen Elbenkönigin Galadriel, mal die sanften heilenden Hände Aragorns oder die steinzermalmende Kraft der uralten Ents, den Baumhirten. Bei jedem neuen Lesen von „Der Herr der Ringe“ werden mir andere Aspekte der Geschichte bewusst und wichtig. Wenn wir einander gut zuhören, auch in der Beratung und Seelsorge, oder der Therapie, kann uns sogar „einfache“ Romanliteratur einen Zugang zu ganz tiefen psychologischen Einblicken verhelfen.

Weiter gibt die Art und Weise wie wir von unserem Leben erzählen viel Auskunft darüber, wie wir uns selbst eingebunden in unsere Welt sehen, was wir vom Leben hoffen oder wo wir tief enttäuscht wurden. Die großen Narrative unseres Lebens sind immer präsent und durchdringen jedes Erlebnis. Wenn wir gegenüber einem aufmerksamen Zuhörer davon erzählen, können wir diese auf neue Weise entdecken und herausfinden wo wir unsere eigene Geschichte anders erzählen möchten. Manchmal gibt es neue Seiten zu schreiben, weil wir neue Einsichten gewonnen haben. Jedes Mal, wenn wir unsere Geschichte erzählen, werden wir andere Aspekte beschreiben, oder neue Einzelheiten erinnern. Unsere Geschichte ändert sich, wenn wir sie erzählen.

Gibt es vielleicht einen besonders widerwärtigen Bösewicht aus einem Film oder Buch, von dem ihr mir erzählen könnt? Welche Filmfigur hat euch zuletzt bewegt oder welchen Charackter mögt ihr besonders gern? Was habt ihr zuletzt gelesen? Ich würde gerne von euch hören!